Er sitzt jeden Tag da. Auf einem alten Gartenstuhl zwischen dem Kiosk und der Dönerbude am Oranienburger Tor. Die Leute gehen an ihm vorbei. Manchmal grüßt er eine junge Frau. Ein Anzugträger eilt vom Mittagessen an ihm vorbei, grüßt ihn. Wenn gerade niemand kommt, sitzt er einfach nur da auf dem Stuhl, ein altes Lammfell unter seinem Hintern. Er ist verlebt, aber gepflegt, hat einen weißen Bart, der an einigen Stellen gelb verfärbt ist. Seine weißen Haare werden von einer dunklen Wollmütze verdeckt, an der diverse Abzeichen stecken: vorne an der Stirn die Nadel eines U-Boots gesäumt von einem Eichenlaubkranz, auch andere militärische Erinnerungen, Länderflaggen, das Emblem eines Fußballvereins, ein Bart Simpson, der die Hose runter lässt. Es niselt, er bleibt sitzen. Heute trägt er seine auberginefarbene Trainingsjacke aus Fallschirmseide, die graue Trekinghose und einen derben Norwegerpulli aus heller Wolle. Wollsocken in neuen, billigen Sportschuhen. Hin und wieder zuckt sein rechtes Bein. Das zucken setzt sich fort in seinem rechten Arm. Oder er zieht die Schultern hoch, als ob er friert. Dann schüttelt er etwas ab, blinzelt mit seinen leicht schielenden Augen in den Himmel, spitzt die Lippen zu einer abschätzenden Schnute, um daraufhin zu lächeln. Er streicht mit seinen dicken Fingern über das an einem Lederband um seinen Hals hängende Bund mit allerlei Schlüsseln, winzigem Metallschrott und einem kleinen, abgegriffenen Teddy. Und schon lässt die Rotphase wieder Autos vor seiner Knubbelnase aufreihen, und er kann einen Fahrer mit erhobenem Zeige- und Mittelfinger grüßen - Friede oder Victory? Egal, wenn sie zurückgrüßen lacht er sie offen mit seinen Zahnlücken an. Aber dann auch ein aggresives Auslachen eines Radfahrers, dem er zuruft, "du siehst ja aus wie ein Zombie." Er ist der Chef seiner Welt. Ein junger Türke hält inne, wechselt ein paar Worte, bietet ihm eine Zigarette an. Aber er raucht nicht. Er trinkt Bier aus einer Dose, deren Öffnung er vor dem Regen mit einem leeren Flachmann schützt. Ich vermute, er heisst Werner. Wenn ich versuche in seine Gedanken hineinzuhören, ist da ein Rauschen, tiefer trau ich mich nicht rein. Ich glaube neben seinem Bett hat er das Modell eines deutschen U-Boots stehen. Vielleicht war er mal Matrose? Als ich gehe, grüße ich Werner. Werner grüßt zurück und erzählt mir, er sei der Klaus, sitzt seit 15 Jahren da, sei hier der Torwärter und finde das affengeil.
Der Claim einer Versicherungsfirma macht sich so breit, dass er die gesamte Halle einnimmt. Drei Worte, mit denen sie sich sicher waren, "damit kriegen wir sie alle!" - Leistung, Innovation, Kompetenz. Ein blauweisser Messestand dazu mit einem kleinem Stehtisch. Alles aus Pappe. Der Standbetreuuer ist noch nicht da. Ohne ihn verklingt die große Geste unerhört. Frank hat gerade seine Lehre als Versicherungskaufmann abgeschlossen und mit etwas Glück vor einem halben Jahr als Trainee angefangen. Die nächsten zwei Tage wird er mit einem Laptop an den kleinen Tisch stehen und die Qualitäten der Versicherung auf einer Powerpointpräsentation ablaufen lassen. Der kleine Tisch ist eigentlich kein Tisch. Der Tisch ist eher wie eine dieser Tonnen, die in Ghettoszenarien rumstehen. An Franks Tonne wird keine Wärme in den Gsprächen aufkommen. Wie auch? Leistung, Innovation, Kompetenz - inhaltslos setzt das unter Druck, klingt wie ein Befehl.
Das letzte mal, als Frank an so einer Tonne stand war während einer Clubnacht. Sein langjähriger Freund war wieder mal in Berlin. Sie hatten sich seit zwei Jahren nicht gesehen. Es war schon nicht mehr wirklich Sommer. Sie hatten sich nicht viel zu sagen, also sind sie in einen Club gegangen. Das hat meist geholfen, früher. Hinten ging der Club in einen Hof raus. Es dämmerte schon. In einer Tonne brannte Feuer. Sie standen am Feuer und waren sich fern. Zu sehr waren sie beschäftigt mit den ihren Sorgen: Dem Job, der sie nicht genug herausfordert, der Sehnsucht nach der gemeinsamen Vergangenheit, den Streitigkeiten mit den Freundinnen, die sie zu sehr herausforderten. Im Feuer die Erinnerungen an als alles Besser war. Sie am Leben des anderen Teil hatten und die Welt leichter erschien, wenn sie sie sich gegenseitig erklärten. Die vielen Momente, in denen sie sich nichst zu sagen brauchten und trotzdem einbilden konnten, genau zu wissen, was der andere gerade denkt.
Noch am selben Morgen nahm der Freund den Zug zurück. Um da wieder Leistung, Innovation und Kompetenz in einem Job zu beweisen, der im keinen Spass macht.
Am Wochenende mehrmals am Fernseher versucht, in Filme einzusteigen, immer wieder aus Ungeduld oder Langweile weiter geschaltet. Nervige Kinderfiguren. Zwischendurch eine Idee für ein Sendungskonzept auf RTL2 gehabt. Idee ist inzwischen im Begriff wieder von mir verworfen zu werden. Heute vormittag in einem Rutsch Horst Evers "Die Welt ist nicht immer Freitag" durchgelesen. Kurzweilig, obwohl lustig insgesamt eher deprimierend.